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Besuch in Prousts Normandie

Mit der Proust – Gesellschaft auf einer drei Tages – Exkursion, über Amiens und Rouen nach Cabourg, wo der Präsident der APG im Speisesaal des Grand Hotels an die Szene aus den Military Philosophers erinnern durfte (s. oben das Zitat des Monats). Hier seine kurze Ansprache:

Sie wissen ja, dass Anthony Powell, der Autor des 12bändigen A Dance to the Music of Time, häufig der „englische Proust“ genannt wird. Das liegt daran, dass beide sehr umfangreiche, mehrbändige Gesellschaftsromane geschrieben haben. Proust kennen Sie, zu Powell kann ich sagen, dass hier alles vorkommt, was die englische Gesellschaft zu bieten hat, Private Schools, Oxford, die City, Politiker, das Militär, Schriftsteller, Maler, Musiker, Kritiker, der Hochadel und die Bohème, Industriemagnaten und jede Menge attraktiver Damen. Und das Ganze spielt vom Ausbruch des 1. Weltkrieges bis in die Mitte der 70er Jahre und wird im Plauderton erzählt, in den Worten des Autors „told over the dinner table“.

Ob der Vergleich mit Proust nun zutrifft oder nicht, sicher ist, dass Powell ein großer Verehrer von Proust war. Sehr früh schon stand für ihn fest: Nach T S Elliot und Marcel Proust konnte die Literatur nicht mehr die gleiche sein wie vorher. Powell hat sich in seinen unzähligen Buchkritiken – er hat jahrzehntelang Artikel für diverse Zeitungen geschrieben – mit keinem Autor mehr beschäftigt als mit Proust. In seinen Memoiren beruft er sich häufig auf ihn und in seinen Tagebüchern kommt Proust fast so oft vor wie Shakespeare. Vor allem Prousts Personenzeichnungen, bei der die realen Vorbilder wie Parodien der Romanfiguren wirken und nicht umgekehrt, waren für Powell vorbildlich. Und am Ende seines literarischen Schaffens, buchstäblich ganz am Ende des vierten und letzten Bandes seiner Memoiren mit dem schönen Titel The Strangers are all gone, wie bei allen Bänden natürlich ein Shakespeare – Zitat, skizziert Powell sein literarisches Vermächtnis, für das er Proust als Zeugen aufruft. Er entwirft eine Art Methodenlehre der perfection of literature. Er sinniert zunächst über Regeln, Konventionen und handwerkliche Techniken des Schreibens. Es geht ihm dabei um die small things of life, nicht um die großen Themen. Von den alltäglichen Trivia zu den großen Sinnfragen, mit petit point – Bildern zur großen Perspektive.

Sodann stellt er den genialischen Autor, der keine Regelhaftigkeit benötige, dem mittelmäßigen Schriftsteller gegenüber, der nur überleben könne, wenn er sich an überlieferten Standards orientiere. Shakespeares schöpferische Kraft hätte die Beachtung irgendwelcher Regeln völlig überflüssig gemacht und zur Entgegnung auf die von ihm antizipierte Kritik an dieser These beruft sich Powell auf Proust, den er den „greatest novelist and greatest rulebreaker“ der französischen Literatur nennt. Am Ende meint er dann,

Shakespeare hätte (…) mit Proust übereingestimmt, beide in der festen Überzeugung, dass ‚große‘ Themen nicht notwendig sind für große Kunst.

Um seinen Punkt zu verdeutlichen, erinnert Powell an die Anekdote von Vasari, in der ein Medici nach heftigem Schneefall in Florenz Michelangelo herbeizitiert und beauftragt habe, einen Schneemann zu bauen. Und trotz der ignoranten Arroganz des Fürsten könne kein Zweifel bestehen, dass hier einer der schönsten Schneemänner der Geschichte entstanden sei.

In dieser Tradition sieht sich Powell, der vom Kleinen zum Großen erzählt und in seinen Romanen häufig das Banale vor die Tragödie stellt. Nur ein Beispiel von sehr vielen: im Blitz ist das Café Madrid getroffen worden, während dort eine Feier stattfand. Ein Freund kommt ums Leben, aber wie durch ein Wunder überleben dessen Verlobte und ihre Tante Molly, die früh die Party verlassen haben und nach Hause gefahren sind. Als Nick ihnen die traurige Nachricht überbringen will, ist auch ihr Haus von einer Bombe getroffen worden und beide sind ums Leben gekommen. Diese Tragödie kontrastiert Powell mit der Erinnerung einer Bekannten, die er vor Ort antrifft. Diese beklagt, dass die tote Lady Molly überall herumerzählt habe, sie hätte kürzlich einen pork pie hat getragen und dazu eine grüne Fliege. Das hätte aber gar nicht gestimmt und selbst wenn, warum solle sie nicht einen pork pie hat mit einer grünen Fliege tragen? Das ist typisch powellesque: Das Geplapper über passende oder unpassende Kleidung vor der Tragödie des dreifachen Todes. Traumatische Kriegserfahrung gemischt mit Alltagstratsch.

In Powells Romanen kommen nur ganz wenige Autoren vor, und wenn, dann kommen sie eher schlecht weg. Virginia Woolf lehnt sein Ich – Erzähler und alter ego Nicholas Jenkins rundheraus ab. Als sein Gesprächspartner beharrt „That woman can write“, antwortet Nicholas: „But I still don’t like her“. Ähnlich geht es Anthony Trollope, nur bei Proust ist alles anders. Während eines Bombenangriffs zu Beginn des Blitzkriegs kommt es zu einem bizarren literarischen Kolloquium: der leicht exzentrische General Liddiment und Nicholas Jenkins suchen nach den ersten Einschlägen unter einem umgestürzten Tisch Schutz, beide mit einem Buch in der Hand, in dem sie gerade gelesen hatten. Liddiment hat ein Buch von Trollope dabei und fragt Jenkins “What do you think of Trollope?” und dieser antwortet „Not very much, Sir“. Dabei drückt er den ersten Band von Prousts Recherche fest an seine Brust.

Und dann in The Military Philosophers kommen wir sogar in die Räume, in denen wir uns jetzt in diesem Moment befinden. Nicholas Jenkins ist im November 1944 mit den alliierten Streitkräften in der Normandie, um die Position der britischen Linien zu überprüfen.  Und plötzlich kommen ihm Szenen aus der Recherche…  in den Sinn. In einer bescheidenen Übersetzung, nämlich meiner, wie folgt:

Buchstabieren Sie doch mal den Namen des Ortes, wo wir gestern übernachtet haben, Major Jenkins, sagte Cobb.
C-A-B-O-U-R-G, Sir.  
Als ich den letzten Buchstaben hervorbrachte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Alles änderte sich. Alles kam zurück – wie die in Tee getränkte Madeleine selbst. Eine Sturzflut der Erinnerung. Cabourg – Wir waren gerade aus Cabourg gefahren … aus Proust’s Balbec. Erst vor ein paar Minuten hatte ich auf der Esplanade gestanden, wo, in ihrer Polokappe und umringt von einer kleinen Gruppe von Mädels, die er für die Geliebten von Rennradfahrern gehalten hatte, Albertine in Marcels Leben spaziert war. Durch die hohen Fenster des Speisesaals im Grand Hotel, den Blick freigebend, so dass man meinte, in ein Aquarium zu starren, konnte man Saint-Loup sehen, am selben Tisch Bloch, der verlogener Weise eine Bekanntschaft mit den Swanns behauptete.

Ein schöneres Denkmal kann ein Autor einem anderen ja kaum setzen. Indes, später, im Juli 1990, hat Powell in seinen Tagebüchern über diese Szene noch einmal nachgedacht und seine Analyse klingt etwas weniger romantisch: Marcels „sexuelle Transformation“ würde sich „mit dem Auftritt von Albertine etwas unbeholfen“ entwickeln. Die (…) Mädchen könnten Mädchen sein, „aber ihr Benehmen, ihre Konversation klingen immer mehr nach Jungs, genauso wie Marcels Geschwafel von so vielen erfolgreichen Anmachen, eigentlich unwahrscheinlich, wenn es sich nicht um regelrechte Prostituierte handelt. Milchmädchen, Fischverkäuferinnen, unwahrscheinlich ohne die homosexuelle Transfiktion“.

Und hier der Literaturblog ichsagmal.com