Johanna Dombois über Powell & Shakespeare
Wie angekündigt hat Johanna Dombois ihren Vortrag vom 28.09. (s. die nächste Meldung unten) verschriftlicht und er ist unter der Überschrift ‚Schlag nach bei Shakespeare‘ in der FAZ vom 16.12. 2023 in der Rubrik ‚Bilder und Zeiten‘ erschienen. Die Langfassung finden Sie hier:
POWELL’S WILL – Anthony Powells Memoirentitel
von Johanna Dombois
Welchen Titel gibt man dem eigenen Leben? Der geschenkte Gaul ist schon weg, der vielleicht schönste Memoirentitel deutscher Sprache ist Hilde Knef auf ewig sicher. My Way klingt immer noch gut, doch funktionieren in der Literatur keine Coverversionen. Die Entsprechung Mein Leben ist Dutzendtitel (David Beckham über Seume, Trotzki bis Richard Wagner), und Otto Waalkes‘ Kleinhirn an alle besitzt natürlichen Kopierschutz. Auf beklemmende Weise gilt dies selbst für einen Titel wie Ich nicht, mit dem Joachim Fest, der wenige Tage vor Erscheinen seiner Autobiografie starb, sein Leben als Negationsform auswies. Es erinnert daran, dass Titel immer am Schluss, mit Blick auf das Ganze geschrieben werden. Dafür schönstes Beispiel: Abgehauen von Manfred Krug. Das kann nur sagen, wer angekommen ist.
Schwer besonders für Literat*innen, das Richtige zu finden. Das Lesepublikum kennt ihre Dichtungen, soll aber plötzlich mit Wahrheiten konfrontiert werden. Notwendig schieben sich Biografik und Belletristik, Fiktion und Dokumentation ineinander. Daneben gelten weiter die Regeln des Handwerks: Eine gute Überschrift für Lebenserinnerungen sei, bitte: einfach und angemessen komplex, originell, doch ernsthaft, sachlich richtig, aber nicht verklausuliert.
Der britische Schriftsteller Anthony Powell hat diese Aufgabe auf eine Weise gelöst, die alle Kriterien erfüllt und unterwandert zugleich, und wenn jemand vorführt, dass Titel dafür da sind, dass man an ihnen hängenbleibt, dann er:
Anthony Powell (1905-2000), Studienkamerad von Henry Green, Graham Greene und Evelyn Waugh in Eton-Oxford, in Hollywood Kollege von F. Scott Fitzgerald, Lebensfreund von George Orwell, ab 1947 Redakteur des Times Literary Supplement, danach beim Punch, interimistisch Lektor und Herausgeber, ist als „der englische Proust“ in die Literaturgeschichte eingegangen. In seinem Hauptwerk, dem 12-bändigen Romanzyklus A Dance to the Music of Time (1951-1975), hat er das Leben der britischen Oberschicht des 20. Jahrhunderts von unten geschildert, also gerade nicht ‚top down‘, wie man es von einem, der gesellschaftlich dazugehörte, hätte erwarten können, sondern ‚bottom up‘, in hunderten messerscharfer Vignetten und Alltagsanekdoten, in denen so viel Krieg wie Plumpudding steckt.
Dass Anthony Powell auch Memoiren geschrieben hat, ist erstmal nicht selbstverständlich. Nur weil jemand gut schreibt und viel erlebt, ist er nicht ipso facto ein guter Biograf in eigener Sache. Tatsächlich hat Powell zunächst historisch biografisch gearbeitet. 1948 erschien eine Darstellung des Lebens des Altertumsforschers und Autors John Aubrey. Signifikant daran ist, dass Aubrey wiederum für seine Brief Lives, eine Sammlung farbenreicher Kurzbiografien des 17. Jhs. bekannt war. An diesem Punkt fließen für Powell Text und Leben zusammen. Die Memoirs of Anthony Powell kamen dann in 4 Bänden, und sie heißen:
1. Infants of the Spring (1976), 2. Messengers of Day (1978), 3. Faces in My Time (1980), 4. The Strangers All Are Gone (1982). Der Coup ist, dass keiner dieser Titel von Powell selbst stammt, sondern dem dramatischen Werk William Shakespeares entnommen ist. Das kann man mutig finden. Der eigenen Vita etwas Fremdes voranzustellen, birgt manche Gefahr. Allzumal das Entliehene hier kommentarlos zu Eigenem geworden ist, nirgends Gänsefüßchen, keine Quellangaben. Gab es etwa nicht auch zu Powells Zeiten schon hohe Aufmerksamkeit für Plagiate? Freilich kann man die Klassikergebärde auch an sich überholt oder einfach nur langweilig finden. In diesem Fall wäre kaum einmal mehr nötig, dass sie als solche erkannt wird. Allein, Powell kennt nicht, wer ihn nicht mit der Sinnlupe gelesen hat:
„Infants of the Spring“ (Kinder des Frühlings), der Titel seines ersten Bandes, ist original der zweite Halbvers 39 aus Hamlet, I. Aufzug, 3. Szene. Laertes spricht zu seiner Schwester Ophelia. Auf den ersten Blick bringt das einen ’schönen‘ Titel ein. Die Wahl eines Poeten, naturlyrisch, stimmungsvoll. Die Pluralform „infants“ macht es symbolhaft – einst, wir alle, Röslein auf der Heiden – und auf melancholische Weise gesellig. Retrospektiv ist der Frühling auch die Frühzeit. Die eigene Kindheit wird gemeint sein bei Bd. 1, Powell selbst ist das „infant“. Womöglich weist er sogar auf die eigene Geburt, die kurz vor Weihnachten lag. Das Christuskind heißt „infant Jesus“, und der Frühling käme durch die christliche Botschaft herein, die das liebe „Blümlein bracht, mitten im kalten Winter“.
Auf den zweiten Blick zerfällt Powells Titel ins Gegenteil. Liest man den shakespeareschen Kontext, erteilt Laertes der Schwester eine Standpauke. „›The canker galls the infants of the spring“, lautet der Ganzvers, und weiter „Too oft before their buttons be disclosed […]‹.“ Das ist im Kern eine Sex-Szene ohne Sex, die berühmte Anschauung um der Vermeidung willen, denn Laertes meint natürlich die Knospe der Jungfernschaft, die Hamlets Wurm („canker“) ihr zernage. „[O]f the spring“ enthält akustisch „offspring“, den Sprössling, den krummen Nachwuchs, was einem „infant“ eben so passiere, das sein Röslein nicht bewahrt. Dazu tritt, dass Powells Titelpassage sich bereits im Original als ein Zitat erweist, demnach sogar handwerklich Abkömmling ist. Hinter „infants of the spring“ verbirgt sich ein elisabethanisches Sprichwort. Wenige Übersetzungen haben Shakespeares Anführungszeichen erhalten oder überhaupt erkannt. Doch Powell zitiert bewusst einen Laertes, der selbst zitierend auftritt, jene, die es vermeintlich besser wissen, die Alten, eingerechnet Beckmesser und Klatschweib. Von wegen beschauliche Naturlyrik. Kindheit ist bestenfalls eine Scherbe, „infants of the spring“ spricht vom Zerrbild des Jungseins. Mit Laertes hat Powell eine Spiegelfigur aufgerufen, beschlagen, mit dickem alten Buch in der Hand, ein Überlieferer von Kunst wie Dunst. Guckt man den Spiegel an, sieht man Powell selbst. Und der Spiegel sprach: Ich bin ganz anders, als Ihr denkt.
Der Titel Messengers of Day (Tagesboten) für Bd. 2ist aus Julius Caesar, II.1, V 104. Wieder: So einen Titel wünscht man sich. Sowas ruft Dichter noch nach Jahrhunderten auf. Das wirkt auch schlüssig, insofern die Zeile bei Shakespeare Cinna, dem Poeten, gehört: „and yon grey lines/ That fret the clouds are messengers of day.“ Kein rosenfingriger Himmel, sondern graues Gewölk kündigt den Tag an und ist Chiffre dafür, dass bei Shakespeare selbst die Wolken einen Haken haben.
Cinna gibt es im Julius Caesar in Wahrheit nämlich zweimal, zum einen Cinna, den Dichter, zum anderen Cinna, das Mitglied der Verschwörergruppe gegen Caesar, und es ist nun ausgerechnet dieser Kollaborateur, der das so hübsch mit den Wolken zu sagen wusste. Im Samt trägt er längst den Stahl. Cinna, der Dichter hingegen hat nur einen einzigen Auftritt. Er wird mit dem Verschwörer verwechselt und von Plebejern auf offener Straße ermordet (III.3): „Tear him to pieces“ – „I am Cinna the poet, I am Cinna the poet“ – „It is no matter, his name’s Cinna; pluck but his name out of his heart“ (reißt ihm nur seinen Namen aus dem Herzen). Poesie mag eine Klinge haben, doch Waffe ist sie nicht, und selbst bei Powell bleibt vom Bauernopfer nichts, das Zitat fürs eigene Lebensbuch nimmt er vom Antreiber des Plots. „Have an eye to Cinna“, rät Artemidorus dem Caesar noch in II.3. Caesar ist dem Rat nicht gefolgt. Powell umso mehr. Wie es Querstreifen am Himmel gibt, gibt es schöngeistige Verschwörer, Kavaliersmörder – eine unmögliche Kategorie. Powell zitiert dunkle Existenz. Das ist die Botschaft des Tages. Und der Spiegel sprach: Ich bin anders, als Ihr denkt, und ich sage es auch anders.
Faces in my Time (Gesichter meiner Zeit) stammt aus King Lear, II.2, V 94 – ganz große Landschaft. Das ist ein Panoramatitel von Meisterhand, vielleicht steht dieser Titel schon für ein Resümee. Den dritten Band einer Memoirenfolge assoziiert man mit Herbst. Konkret ist zu hören Graf Kent, der mit Oswald, dem Haushofmeister der ersten Tochter Lears in Streit gerät. Kent schimpft und prügelt bald, was das Zeug hält, die beiden werden schließlich getrennt, Kent wird in den Block gesperrt. Es folgt der Schicksalsmonolog eines Kobolds. Kent schäkert selbst mit Fortuna, und leis‘, ganz leis‘, am Brunnengrund, ist es von weiser Art: „Fortune, good night; smile once more; turn thy wheel!“ (Schicksal, gute Nacht; lächle noch einmal, dreh dein Rad!). Dann schläft er ein.
Wir befinden uns in einer der kleinen großen Streit- und Komikszenen Shakespeares. Die Prügel, die darin vorkommt, ist verbal, es plattert die herrlichsten Schimpfwörter. Wortfetzerei und Sprachschöpfung verschmelzen: „du dreiröckiger […] hundertpfündiger […] ungebolzter […] milchherziger Wollstrumpfschurke“, „lumpiger Ein-Koffer-Erbherr“, „Barbierstubenstammkunde“, „Mondscheinstunke“ und, ach, du „unnützer Buchstabe, du!“, O-Ton Kent. Powell springt bei. „I have seen better faces in my time“, heißt der Wortlaut im Original, aus dem er seinen Titel bezieht. Das Wörtchen „better“ selbst scheint ihm „unnützer Buchstabe“ zu sein, er kippt es nach hinten weg, und vorne heraus kommt vornehmes Stänkern. Denn „faces in my time“ ohne „better“ sagt eigentlich: ‚All I’m seeing now are faces pretty much worse than the ones in my time.‘ Anthony Powell wird auf laute Weise selbst leis‘. Oder umgekehrt. Eine andere Zeit kündigt sich an, eine, mit der man sich nicht mehr ganz so gut zu stellen weiß. Eine Prise Ernüchterung liegt darin. Eventuell sterben die Menschen unter den Menschen aus. Und der Spiegel sprach: Ich bin anders, als Ihr denkt, ich sage es auch anders, vor allem aber seid Ihr anders, als ich dachte.
Mit dem vierten und letzten Band zitiert Powell Romeo and Juliet. The Strangers All Are Gone ist V 145 aus I.5. Die Amme sagt es zu Julia. Es ist der letzte Vers der Szene wie des Akts. Die große Maskerade, jener schicksalhafte Tanzball im Haus der Capulets, ist zu Ende. Die Fremden sind wirklich alle weg, die Räume leer. „Let’s away“, lass uns auch gehen. Dabei ist es nur Minuten her, seit Julia Romeo zum ersten Mal gesehen hat. In Wirklichkeit sind die Masken gefallen, und Julia weiß es, sie fühlt wie nie zuvor, fremd in sich selbst und zerworfen durch Bedingungen des Lebens, die nach ihr greifen.
Insofern wirkt es zunächst als Erleichterung, dass die Fremden weg sind. Man selbst ist schließlich noch da, auch Powell ist noch da, es ist spät, aber man ist sicher. Dass Anthony Powell für seinen Altersband auf die berühmtesten Youngsters der Literatur verweist, erklärt sich literarisch. Gemessen an der Lebensspanne, die Romeo und Julia bei Shakespeares zuteil wird, sind beide Figuren steinalt. Sie mögen 14, 15 sein, stehen im Stück aber fünf Tage vor ihrem Tod. Und 14, 15 sind sie auch schon seit rund 430 Jahren. Möglich, dass Powells Süffisanz das eigene Werk zu solchen Evergreens rechnete.
Und dann ist dieses Geräusch da. „Jemand ruft“. Der letzte Vers des ersten Akts ist von Regieanweisungen eingerahmt. Wer ruft? Alle seien doch weg, hieß es. Oder ist man selbst ein Fremder? Das bedeutete, dass man auch gehen muss. „Komm, Julia!“ – Komm, Anthony! – Wohin denn? – Auf die andere Seite. Nur wer ist dieser „Jemand“? „A thing“, wie der Geist des Vaters Hamlets genannt wird? Nichts Menschliches, aber doch begabt mit Stimme und Präsenz. „Man ruft“, wird es auch übersetzt. „One calls within“. Es ruft.
Die leeren Zimmer werden dunkel. Die Amme selbst kennt sich nicht mehr aus. „Was ist das?“, fragt sie noch zuvor. Alle Fremden mögen gegangen sein, aber etwas Fremdes steht plötzlich im Raum. Das Erbe der Fremden ist, dass wir keine Antwort darauf haben, was sie bringen. Wir wissen nichts. Und der Spiegel sprach: Ich bin anders, als Ihr denkt, ich sage es auch anders, vor allem aber seid Ihr anders, als ich dachte, und unbekannt ist, wer mich ruft.
Vorhang
Anthony Powell solidarisiert sich über die Titel seiner Memoiren, die er von Shakespeare bezieht, mit Personal, das über die Hintertreppe kommt. Er lässt Neben- und Randfiguren sprechen. Er schürft Worte aus dem Untersten, ja, Innersten Shakespeares und manchmal bloß einen Atemhauch, der den Spiegel beschlägt. Alle seine Titel sind buchstäblich Subtext. Subtext, geronnen zu biografischem Stoff.
Rhetorisch unterwandern alle vier Titel, was man von ihnen erwarten mag. Viermal benennt Powell etwas, das in Shakespeares Vokabular selbst kaum mehr enthalten ist. Das Fehlen der Anführungszeichen hat so gesehen sogar sein Recht, sie umarmten nur Luft: Der erste Titel funktioniert uneigentlich (Zitat im Zitat, Infants of the Spring); der zweite Titel ist uneindeutig (zweimal Figur des Cinna; Messengers of Day); der dritte Titel kommt unernst (Kents Komödiantentum, Faces in My Time); der vierte Titel bleibt unwägbar (Wer ruft?, The Strangers All Are Gone).
Gültig indes ist, dass Anthony Powell das Kleinste vom Größten genommen hat, von Shakespeare. Damit hat er sich selbst ein Maß gegeben, angesiedelt in der Mitte, irgendwo zwischen Fremden und Göttern.
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Der Text geht auf eine Lesung zurück, die die Autorin auf Einladung der Anthony Powell Gesellschaft e.V. am 28.9.2023 in der Bibliotheca Speck in Köln gehalten hat. Die Printfassung des Beitrags ist, mit leichten Anpassungen und unter dem Titel Schlag nach bei Shakespeare, erstmals erschienen in: Frankfurter Allgmeine Zeitung, Nr. 293, 16.12.2023, S. 38 [= Bilder und Zeiten, S. Z 2].
Johanna Dombois, Köln/ Athen, freie Autorin und Publizistin. Essay, Dokufiktion, Kurzepik. , www.jhnndmbs.net, wikipedia.org