Shakespeare, Proust & Powell
Am 28.09. 2023 hat die Universitätsbibliothek Köln anläßlich des 400. Geburtstags des First Folio die Digitalisierung des Exemplars gefeiert, das sich im Besitz der UB befindet. Erfreulicherweise wurd die APG eingeladen, aus diesem Anlass die besondere Beziehung zwischen Shakespeare und Anthony Powell zu würdigen.
In der Bibilioteca Reiner Speck hat zunächst der Hausherr durch seine Petrarca- und Proustsammlungen geführt. Nach der Begrüßung durch den Vizepräsidenten der APG Henner Löffler hat zunächst Christiane Hoffrath von der UB das Digitalisierungsprojekt und zahlreiche Details des F 1 genannten Buchs vorgestellt, der Präsident der APG Theo Langheid hat anschließend das Thema ‚The Perfection of Literature’: Shakespeare & the ‘Great Rule Breaker’ im Urteil von Anthony Powell erörtert und zum krönenden Abschluss hat Döblin – Stipendiatin Johanna Dombois über die vier Titel von Tonys Memoiren nachgedacht, ist dafür tief in die Werkinterpretation von Shakespeares Stücken, aus denen Powell seine Titel entliehen hat, eingestiegen und hat das alles zu sehr persönliche Schlussfolgerungen kontrahiert.
Die Begrüßung von Henner Löffler und die Rede des Präsidenten finden Sie unten. Eine gekürzte Fassung des Vortrags von Johanna Dombois ist in der FAZ vom 16.12.2023 in ‚Bilder und Zeiten‘ erschienen; der Langfassung haben wir eine eigene Meldung (vor dieser hier) gewidmet.
Begrüssung 28. SEPTEMBER 2023 BIBLIOTHECA SPECK
von Dr. Henner Löffler
Ich begrüsse Sie sehr herzlich im Namen des Hausherrn Prof. Reiner Speck , der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln, und der Anthony Powell Gesellschaft zu einer aussergewöhnlichen Tagung, welche die Vorstellung einer vorzüglich erhaltenen First Folio Ausgabe von Shakespeares Theaterstücken (36) in digitaler Form enthält, zudem William Shakespeare und Anthony Powell zusammenbringt, wie wir später hören werden .
Die Vorstellung, dass Shakespeare, den wir, jenseits aller Skepsis betreffend Reihenfolgen der Wertigkeit von Dichtung, als den bedeutendsten, faszinierendsten und einflussreichsten Dichter unserer Kulturgeschichte bezeichnen können, ein Exemplar der First Folio in der Hand hätte halten können ist verlockend, aber er verstarb schon sieben Jahre vor deren Erscheinen. Bemüht hat er sich nach Allem, was wir wissen, ohnehin nicht um diese oder überhaupt eine Ausgabe seiner sämtlichen Dramen, ohne welche gut die Hälfte von diesen verschollen geblieben wäre – ein Geheimnis: warum war er nicht wie jeder Autor stolz auf seine Werke und daran interessiert, sie der Nachwelt zu hinterlassen? Der Hinweis, dass man zu seiner Zeit Theaterstücke nicht für entsprechend wichtig hielt, hilft hier nicht weiter, ihm widerspricht schon die tatsache, dass sie eben doch gedruckt wurden.
Zu der Frage, auf wessen Initiative, werden Sie heute mehr aus berufenerem Mund erfahren. Auch Shakespeares Sonette wurden übrigens erst nach seinem Tod zum ersten Mal gedruckt. Sie stellen, und das in diesem Haus zu betonen, ist wichtig, eine direkte verbindung zu Petrarca dar, der Will ebenso vertraut war wie Montaigne.
Neues gibt es immer wieder zu entdecken, glücklicherweise nicht mehr so viel zu dem ‚wirklichen‘ Shakespeare, dem, der sich hinter dem angeblichen verborgen haben soll; dieses eher lächerliche Thema mit all seinen absurden Varianten und spekulationen, welches u.a. Frank Günther in seinem grandiosen Buch ‚Unser Shakepeare‘ endgültig zu Grabe getragen hat, hat sich zum Glück weitgehend abgekühlt.
Im Raum steht weiterhin das oben angesprochene Thema des fehlenden Stolzes des Autors auf das eigene Werk, vielleicht sogar der Nicht – Erkenntnis seiner Bedeutung, und des damit verbundenen natürlichen Wunsches, es in Gänze der Nachwelt zur Kenntnis zu geben.
Die plausibelste Antwort lautet schlicht so: Will sah sich als Unternehmer und mass seinen Erfolg nicht am Ruhm und Nachruhm seines Werks, sondern am finanziellen Erfolg seiner beteiligungen an spielstätten, und der Freiheit, welche ihm dieser gab, in die Heimatstadt zurückzukehren und dort als Immobilieninvestor jene endgültige Selbstständigkeit, bürgerliche anerkennung und finanzielle Absicherung zu erreichen, die seinem Vater (Trauma!) versagt geblieben waren. Nun, würde das seine Grösse als Dramatiker und Dichter mindern? Ich meine, nein!
Niemand wird ihn je von diesem Sockel stossen können, wie es zum Beispiel seinem, siebzehn Jahre älteren, Zeitgenossen Cervantes von Seiten Vladimir Nabokovs ergangen ist (beide starben bekanntlich im gleichen Jahr, nämlich 1616, Shakespeare zwischen einem und zehn Tagen später, was vielleicht einer der Gründe ist, dass auch schon Cervantes als der ‚echte‘ Shakespeare genannt wurde). ich bringe das hier auf, weil es, wie ich glaube, mehr über Shakespeare sagt als über Cervantes, und über den Unterschied in der Bedeutung zwischen ihnen.
Nabokov, der dreisprachig und mit Literatur ab dem sechsten Lebensjahr aufgewachsen ist, analysierte den ‚Don Quijote‘ als Gastdozent in Harvard im Frühjahrssemester 1952, und die Einzelausgabe im Rahmen der deutschen Gesamtausgabe möchte ich Ihnen wärmstens ans Herz legen. auch weil es ein Beispiel der genialen Begabung Nabokovs zur Literaturanalyse gibt. Natürlich sprach er Cervantes nicht grosse Bedeutung ab, aber er relativiert diese doch deutlich. Eine solche Relativierung verdient das Genie Shakespeares nicht, weil wir von ihm die ganze Welt, echt oder erdacht, in all ihren Regionen, kulturen, Völkern, Charakteren, Protagonisten und Drama – Varianten vorgeführt bekommen. Bei Cervantes ist da nur die Enge seiner Umwelt und deren Werte.
Die erste Ausgabe des ‚Don Quijote‘ erschien im Jahr 1605, dem Jahr, das wir für Shakespeare mit ‚King Lear‘ verbinden. Obwohl ich hier über Will spreche, kann ich es Ihnen zwei Zitate Nabokovs nicht ersparen:
‚Mit seinen unsinnigen Gasthöfen voller verspäteter Einkehrer aus italienischen Novellen und seinen unsinnigen, von liebeskranken, als Schäfern verkleideten Poeten wimmelnden gebirgen ist das Bild, das Cervantes von seinem Land entwirft, etwa so zutreffend und typisch für das Spanien des 17. Jahrhunderts wie der Weihnachtsmann für den Nordpol des 20.‘
Und: ‚Dass die Leser des DQ sich in früheren Zeiten bei jedem Kapitel vor Lachen ausgeschüttet haben, scheint dem heutigen Leser unfassbar, dem die Implikationen seiner Komik brutal und grausam vorkommen. Häufig sinkt die Komik auf das Niveau der mittelalterlichen Farce mit all ihren konventionellen Lachnummern. Es stimmt traurig, wenn ein Autor annimmt,bestimmte Dinge wären an sich schon komisch: Esel, verfressene Menschen, gequälte Tiere, blutige Nasen und so weiter.‘
Nabokov hat aus einer tiefen Bewunderung für Shakespeare kein geheimnis gemacht, ihm aber nie eine Vorlesung oder einen anderen eigenen Text gewidmet, wohl aber durchziehen Zitate und Anspielungen sein gesamtes literarisches Werk, ähnlich dem Powells. Sie sind oft nur schwer als solche zu erkennen, er liebte das Versteckspielen.
Zurück zum Thema: Wills mordende Könige wie Richard III., Heinrich VIII., aber auch seine gütigen Regenten, seine Liebenden, seine Schurken und Gauner, seine Elfen, Hexen und Zauberer (Neil Mc Gregor bemerkt in seinem Buch ‚Shakespeares ruhelose Welt‘ dazu, dass „seine Stücke voller überweltlicher Erscheinungen sind, gewöhnlich unsichtbar, aber auch dann wesentliche Träger der Handlung“), seine Trunkenbolde, seine Dummköpfe, seine Angeber, Intriganten und Betrüger, seine Herrscher wie Bettler und einfache Bürger, die Menschen seiner zeit eben, sind in unser Gedächtnis eingegraben und haben nichts von ihrer Faszination verloren, sind zeitlos gültig.
Wir lassen uns das auch von weniger guten bis ganz schlechten und nur von Regisseurseitelkeit getragenen Aufführungen nicht vermiesen (wir alle kennen Shakespeares Dramen und Komödien doch am Ende mehr von der Bühne als von der Lektüre).
Ich denke dabei ganz besonders an Günter Krämer und seine Inszenierung von Richard III. im Kölner Schauspiel 2001, bei der Textteile eliminiert waren und Martin Reinke, der Wills grössten (?) Bösewicht gab, in einer Szene nackt und rauchend zugleich auftrat, was als Beispiel für besserwisserisches Rumflicken am Werk bei Krämer fast schon Standard war, der meinte, das Kölner Publikum schockieren zu müssen.
Aber was erwartet man schon von einem regisseur, der glaubt, Texte auch anderer bedeutender Dramatiker kürzen und umschreiben zu müssen, weil er klüger ist als die Verfasser? bei Georg Büchner (Woyzeck und Dantons Tod) hat Krämer das am intensivsten getan, was nicht minder unverzeihbar ist, und dennoch konnte er das Werk Büchners ebenso wie das Shakespeares nicht wirklich auch nur ankratzen.
Ein neueres Beispiel für den vergeblichen Versuch zur Verbesserung oder eher Zerstörung des Shakespearschen geistes wie Textes, nur um Origilanität vorzuspiegeln, bietet eine Inszenierung des gleichen Dramas durch Efgeny Titof, welche vor einigen Wochen im Düsseldorfer Schauspiehaus Premiere hatte, bei der Video – Konferenzen ebenso eine Rolle spielten wie Dutzende von Bildschirmen mit Kriegsszenen, und fast alle männlichen Rollen gestrichen wurden, vom Text gut die Hälfte, in der die Schauspielerinnen in schwarze Lederanzüge gezwungen wurden, und Richard III. vor allem ein geiler Bock ist. Bei Frank Günther findet sich ein noch absurderes Beispiel mit einem Onanierwettbewerb in einer Inszenierung von Heinrich VI.!
Was gibt eitlen, egozentrischen Regisseuren diesen Kalibers das recht, sich über den Dramatiker, und dann noch den bedeutendsten der westlichen Welt, zu stellen und gerade dessen Texte und mit diesen seine Ideen zu verstümmeln?
Knapp 40 Jahre zuvor hatte ein anderer Regisseur, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnern kann, Günter Ungeheuer als Hamlet in Köln, in den provisorischen ‚Kammerspielen‘ am Hansaring, im grauen Flanellanzug auftreten lassen, was Buhrufe vor Ort, und im KStA vom nächsten Tag den Begriff ‚Skandal‘ zur Folge hatte, obwohl genau dieser Ansatz auf der Erkenntnis der Zeitlosigkeit des Werkes beruht und nichts verunstaltet. Da wären Pfiffe bei den eben erwähnten Text- und sinnfälschern eher angebracht gewesen.
Keinen Menschen, wiederhole ich mich, der Poetik und Theaterstücke liebt, lässt Shakespeare unberührt. Keinen? Nun denn, ich verdanke der Lektüre von Jan Philip Reemtsma’s gerade erschienener, grandioser Wieland – Biographie ein Gegenbeispiel:
‚Man findet auf deutschen Bühnen die abscheulichen Stücke von Shakespear aufgeführt, die man in unsere Sprache übersetzt hat. Die ganze Versammlung findet ein ausnehmendes Vergnügen daran, diese lächerlichen Farcen anzusehen, die nur würdig wären, vor den Wilden Canadas gespielt zu werden.‘ Geschrieben im Jahr 1780, lange vor Schlegel /Tieck, Bezug nehmend auf die Übersetzung von shakespeare durch eben Christoph Martin Wieland, in einem Buch mit dem Titel „Über die deutsche Literatur, die Mängel, die man ihr vorwerfen kann, sowie die ursachen derselben und die Mittel sie zu verbessern,‘ verfasst von Friedrich II., unserem ‚Alten Fritz‘.
Es gibt noch ein paar kritische Stimmen aus jener fernen Zeit so zB von Johann Christoph Gottsched, seit 1721 Professor in Leipzig, der zu Shakespeares ‚Julius Caesar‘ bemerkte, dass Stück habe so viel Niederträchtiges an sich, dass kein Mensch es ohne Ekel lesen könne. Voltaire bezeichnete Will als ‚betrunkenen Wilden‘ und ‚Monstrum ohne Geschmack‘. Den Hintergrund für diese Aussagen können Sie wieder bei Frank Günter nachlesen.
Aus der Gegenwart kann ich nur ich nur ein Beispiel beitragen. ‚Es ist etwas Obszönes in Shakespeare!‘ sagte lt. FAZ ein lehrer aus Florida in Anlehnung an den Gouverneur Ron de Santis, der bekanntlich ein ‚Trump mit Hirn‘ sein soll. Nun denn!
der untertitel der genannten Biographie Wielands, zu der ich kurz zurückkehre, lautet: ‚Die Erfindung der modernen deutschen Literatur‘, und die ebenso faszinierende wie solide begründete Aussage reemtsmas lautet, dass diese erfindung = Entdeckung auch die Shakespeares ist , auf ihm basiert.
Reemtsma bezieht sich dabei auf die Übersetzungungen durch eben Christoph Martin Wieland, die, zweiundzwanzig an der Zahl, fast zwei Drittel von Wills Gesamtwerk, zwischen 1762 und 1766 im Druck erschienen sind. Das war dreissig Jahre vor Schlegel (Romeo und Julia‘ 1796), Tieck und Baudissin kamen noch um einiges später dazu. Im Gegensatz zu den Nachfolgern übertrug Wieland in Prosa. Reemtsma kommt auch zu sehr interessanten Vergleichen zwischen den Übersetzungen dieser Zeit. Bei Frank Günther, der selbst die wohl endgültige Übersetzung aller Werke Wills vorgelegt hat, erfahren wir mehr zu den verwandten Versuchen, sozusagen per Adoption aus Shakespeare einen eigentlich deutschen Dichter zu machen, bis ins 20. Jahrhundert hinein.
Karl Kraus war einer der ganz grossen Verehrer Wills (Zitat: Sh. hat alles vorausgewusst!“), und hat Nachdichtungen einiger Sonette wie Dramen, darunter ‚King Lear‘ und ‚The WInters Tale‘ vorgelegt.
Ich erwähne Kraus auch, weil ich es nicht für Zufall halte, dass bei ihm Nestroy gleich nach Shakespeare kommt. Auch Nestroy war in einer aussergewöhnlichen Parallele Unternehmer und Autor in Sachen Theater.
Ich möchte zum Schluss auf einen Flm aus dem Jahr 1942 verweisen, ‚Sein oder Nicht Sein‘, der eine grosse Liebeserklärung an Shakespeare und speziell den ‚Hamlet‘ darstellt. Ernst Lubitsch drehte ihn in Hollywood, wohin er vor den Nazis geflüchtet war. die letzte Szene dieses Films, der eine ungewöhnliche Mischung von Komik und Grauen darstellt, zeigt die Explosion eines Warschauer Theaters mitsamt Hitler und seiner Entourage. dieses Bild wird von Quentin Tarantino siebenundsechzig Jahre später am Ende von ‚Inglorious Basterds‘ zitiert, nur dass es da ein Kino in Paris war, in dem die führenden Nazis den brandtod sterben.
Shakespeare bleibt auf ganz verschiedene Arten für immer im kollektiven Bewusstsein unserer westlichen Welt.
‚The Perfection of Literature’: Shakespeare & the ‘Great Rule Breaker’ im Urteil von Anthony Powell
von Prof. Dr. Theo Langheid
Ein weiter Bogen, von William Shakespeare zu Marcel Proust, denn dieser verbirgt sich natürlich hinter dem ‚Great Rule Breaker‘ und von dort zu Anthony Powell, einem der großen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Aber das ist keine Willkür, das ist auch nicht zufällig, sondern findet seine Begründung und seine Verklammerung in dem Einfluß, den die beiden Großen der Weltliteratur auf Anthony Powell hatten. Das will erzählt sein, aber dazu will ich Ihnen vorab in Kürze den Autor des ‚Tanz zur Musik der Zeit‘ vorstellen und dann die Inspiration schildern, die Marcel Proust und William Shakespeare auf dessen Werk hatten.
1. Powell und der Tanz….
Um was bzw. wen geht es? Es ist hier kein Raum für eine umfassende Darstellung; wer mehr wissen will, möge sich bitte auf unserer Homepage sachkundig machen. Hier nur so viel: Leben und Roman sind Parallelwelten. Der Ich – Erzähler Nick Jenkins ist natürlich das alter ego von Powell. Ein 12bändiges Werk von über 3.000 Seiten, das mit den Schüssen von Sarajevo beginnt und Anfang der 70er Jahre in einer obskuren Universität in den Midlands endet. Über 400 Personen tauchen auf, treten wieder ab, und erscheinen dann, manchmal erst nach Jahrzehnten und in ganz anderen Rollen, wieder.
Eton. Oxford. Vor der Karriere als Schriftsteller Lektor (Powell bei Duckworth & Co) und Drehbuchautor (Powell sogar in Hollywood). Die City of London, das akademische Leben, der Hochadel, Parlamentarier beider Häuser und die intellektuelle Bohème. Musiker-, Maler- und Schriftstellerkreise. Die Armee, der 2. Weltkrieg und der Blitz über London spielen eine erhebliche Rolle. Erste Vorbilder Anfang der 1920er waren weder James Joyce noch Virginia Woolf, deren Ulysses bzw. Jacob‘s Room im Todesjahr von Proust erschienen, sondern der erste Band der Recherche, der 1922 in englischer Übersetzung erschien. Und parallel dazu TS Elliot und …. erstaunlicherweise Ernest Hemingway, dessen Bildersprache AP ebenso wie dessen Lakonie faszinierte. Nach Proust und Elliot würde in der Literatur nichts mehr so sein wie zuvor, da war man sich nicht nur in Powells Kreis einig. Weitere Vorbilder waren die großen Russen, Dostojewski und vor allem Gogol, aber auch John Galsworthy, dem er mit dem fiktiven Schriftsteller St. John Clarke ein Denkmal gesetzt hat, weil Sinjin an das erste Pseudonym von Galsworthy John Sinjohn erinnern soll.
AP hat höchstes Lob bis intensive Ablehnung erfahren, ein Kritiker hat ihm gar bescheinigt, nur Bettlektüre in Form einer „gaga saga“ geschrieben zu haben und ein Kritiker hat gemeint ‚it is a pity he ever dipped into Proust‘. AP hat das nicht ernst genommen, er habe gar nicht die Absicht gehabt, Proust zu imitieren und er hielt es, zumindest öffentlich, für unangebracht, ihn mit einem der größten Schriftsteller überhaupt zu vergleichen.
Die deutsche Kritik hat den ‚Dance…‘ mit Lob überschüttet. Andreas Isenschmid hat in der „ZEIT“ gemeint, dies wäre die „schönste lange Romanreise der Weltliteratur“, das Ganze sei „very british – besser als Balzac“ (na ja, Balzac war vielleicht nicht so wahnsinnig britisch, aber der Vergleich soll wohl eher auf eine „Comédie humaine“ anspielen). Tobias Döhring in der „FAZ“ spricht von einem „mitreißenden“ Roman, einem „Gipfeltext des 20. Jahrhunderts“ und Andreas Platthaus erkennt im ‚Dance…‘ „das Großartigste, was Literatur zu leisten vermag“.
Leider müssen wir trotz dieser Preisungen noch an der Akzeptanz von Powell hier in Deutschland arbeiten. Aber dabei mag helfen, dass Powell auch heute noch aus dem englischen Kulturleben nicht weggedacht werden kann. In seinem Lebensresumée hat Christopher Hitchens kurz vor seinem frühen Tod im letzten Kapitel seines Hitch 22 – A Memoir Powell eine Liebeserklärung gemacht; durch seine Literatur sei es ihm möglich geworden, längst Vergessenes zu erinnern, Kindheit und Jugendtage wieder zu vergegenwärtigen. Andere gehen es nicht so persönlich an, sondern berufen sich auf Powell als Institution: Autorin Daisy Dunn verweist in ihrem ‚Not far from Brideshead – Oxford between the wars’ immer wieder auf Powell, wenn sie die Zeit damals aufleben lassen will. Wie auch der Historiker Richard Davenport – Hines in seinem Buch über die Profumo/Keeler – Affaire ‚An English Affair: Sex, Class and Power in the Age of Profumo‘. Der Literaturhistoriker D. J. Taylor setzt in einem Beitrag über George Orwell ganz beiläufig und selbstverständlich die Kenntnis des Lesers von Powellschen Romanen voraus. Seine Interviewpartner hätten sich versammelt „as in an Anthony Powell novel“. Sie seien trotz schlechten Wetters herbeigeeilt „like Widmerpool hastening through the Berkshire mist“.
Und Patrick Alexander – Lane hat jüngst erst den Versuch unternommen, in dem soeben erschienen ‘A Dance to Lost Time’ eine Parallelwertung von Proust und Powell vorzunehmen.
2. Powell und Proust
Womit wir bei Marcel Proust angekommen wären.
Der Powell-Biograph Michael Barber hat schon früh darauf hingewiesen, dass es unter anderem deswegen gerechtfertigt sei, von Powell als dem „englischen Proust“ zu sprechen, weil die erste Liebschaft zwischen Nick Jenkins und Jean Duport auf dem Rücksitz eines fahrenden Autos begonnen hätte, genau wie bei Charles Swann und Odette de Crécy. Ein schönes Indiz, ebenso wie die Szene, in der Nick sich an den Tag erinnert, als die Schüsse in Sarajewo fielen, was der schon erwähnte Christopher Hitchens wegen der Erinnerung an früheste Kindheitserlebnisse für ein Musterbeispiel der Vergleichbarkeit von Powell und Proust hält.
Marcel Proust hatte für Anthony Powell zeitlebens immense Bedeutung, aber ironischerweise setzt Powell in einem Artikel aus dem Jahr 1950 John Galswothy mit Proust und dessen Forsytes mit den Guermantes gleich, nicht ahnend, dass er selbst einmal zum Gegenstand ähnlicher Betrachtungen gemacht würde. Anthony Powell hat Proust sehr früh gelesen und auch spät im Leben noch über ihn geschrieben, er hat sich also ein ganzes Leben lang mit ihm beschäftigt, und so kommen im „Dance…“ Proust als Person und die „Recherche…“ als Buch wiederholt vor. Bei einem Alliiertentreffen in der Normandie im November 1944 kommt Proust selbst zu Ehren. In dem kleinen Städtchen erkennt Nick Jenkins das „model for Proust’s Balbec“ und beim Blick durch das Fenster des „Grand Hotel“ erinnert Nick sich: „In a torrent of memory“ sieht er die „the tea-soaked madeleine itself” vor sich. Und später suchen ein General und Nick während des Blitz Schutz unter einem Tisch und der General fragt ihn, was er denn von Anthony Trollope hält, was man halt so macht, im Bombenhagel. „Not much“ sagt Nick und drückt still den ersten Band der „Recherche…“ an seine Brust.
Powell hat nie eine totale Identität von „realen“ mit seinen „fiktiven“ Person akzeptiert, er interessiert sich vielmehr für die Frage, ob und wie man „real people“ für fiktive Charaktere in Romanen verwenden kann. „Viele schlechte Schreiberei“ habe ihre Ursache in der irrtümlichen Annahme, dass außergewöhnliche Persönlichkeiten sich gut für die Verarbeitung in Romanen eignen würden. Für seine These, wonach eine Persönlichkeit als solche interessiert und sie jedes „wahre Leben“ verliert, wenn sie erst einmal in eine fiktive Person verwandelt wird, beruft Powell sich auf Proust. Dessen gelungene Paraphrasierung von Anatole France als Bergotte lasse alle belustigenden Aspekte von Anatole Frances wahrem Charakter aus, die ein schlechterer Autor gewiss für ein unfreundliches Porträt oder gar eine Karikatur genutzt haben würde.
In seinem Aufsatz „Proust as a soldier“ untersucht Powell verschiedene Charaktere aus der „Recherche…“ und zieht Vergleiche zu deren Vorbildern „in real life“. In einem echten Captain Walewski sieht er zum Beispiel das Vorbild für den fiktiven Borodino. Walewski war ein Enkel von Napoleon Bonaparte aus dessen Verbindung zu einer polnischen Dame, deren Tochter später auch noch die Geliebte von Napoleon III. wurde. Eine solche Abfolge von „imperialen Verbindungen“ ist für Powell natürlich ein außergewöhnliches Stück von „literary luck“. Dennoch, und das rechnet er Proust hoch an, habe er dieses Glück nicht ausgeschlachtet, sondern Borodino nur am Rande „eingebaut“ und der Versuchung widerstanden, aus ihm eine Figur zu machen, die die Erzählung dominiert. Das gelte auch für die anderen „echten“ Figuren und so gelangt Powell zu dem Schluß, dass biographische Ähnlichkeiten für die entstehende fiktive Person eigentlich von keiner oder allenfalls geringer Bedeutung sind. Ein weniger disziplinierter Schreiber hätte den „komischen Schabernack“ um Walewski ausgenutzt, Proust aber habe es fertiggebracht, dass die echten Figuren eher als Parodien der fiktiven erschienen als andersherum. Darin erkennt Powell echte literarische Meisterschaft, an der er sich orientiert hat.
Da ist zum Bespiel Lord Warminster, der eine Parodie auf George Orwell ist. Was der wusste und wahrscheinlich für schmeichelhaft gehalten hat. Ein Angehöriger des Hochadels, residiert er auf seinem Sitz Thrubworth Park, wo er mit dem linken Herausgeber der linken Zeitschrift Fission, die er finanziert, eine Kommune zu gründen überlegt. Er zieht sich alte Klamotten an, und lebt das Leben eines Landstreichers, um zu sehen, wie es dem einfachen Volk geht. Er fährt nach China, um da aus erster Hand zu erfahren, wie man Revolutionen macht. Aber dazu gleich mehr. Bei allem Gegensatz, Powell als Thatcher – Fan und Orwell als Soldat im Spanischen Bürgerkrieg, sie mochten sich. Tony is the only Torie I like und dann hat Tony seinem Freund das Samtjackett geliehen, in dem dieser auf dem Totenbett seine Freundin Sonia Brownell geheiratet hat.
Und diese Sonia ist eine ziemlich beste Freundin von Barbara Skelton, dem Muster für Pamela Widmerpool, Höhepunkt aller Frauenfiguren im Dance… . Ebenso extrem gutaussehend wie extrem exzentrisch, taucht sie 1942 aus dem Nichts auf als freiwillige Fahrerin im Kriegsministerium. Nach dem Krieg heiratet sie Kenneth Widmerpool, nur um zu beweisen, dass sie zu allem fähig ist. Eher rhetorisch fragt ihrer Mutter Flavia: „Wie konnte sie nur? Da findet sie den schrecklichsten Mann auf Gottes Erden und heiratet ihn?“. Dann verlässt sie Ken für den Avantgarde-Schriftsteller X. Trapnel, verlässt auch diesen wieder, wobei sie, sozusagen als Abschiedsgeschenk, das einzige Manuskript seines neuen Romans ins Wasser wirft, weil sie es als unter seinen Möglichkeiten empfindet. Barbara Skelton und Sonia Brownell hat die Powell – Biographin Hilary Spurling in ihrer Brownell- Biographie Lost Girls genannt, extrem gutaussehend, extrem schlau, extrem promisk und extrem unglücklich. Während ihrer Ehe mit dem Schriftsteller Cyril Connolly, der hoffte, Barbaras Affaire mit König Farouk von Ägypten würde seine Hochzeitsreise mit ihr finanzieren, hatte Skelton was mit dem Verleger George Weidenfeld, heiratete ihn, um ihn alsbald wieder zu verlassen, weil sie eine Affäre mit ….. Cyril Connolly anfing. Angesichts ihrer schier nicht enden wollenden Liste ihrer Liebhaber, auf der aber ein Name fehlt, nämlich der von Tony Powell, fragt man sich natürlich, ob dieser Umstand sein Portrait von Pamela Widmerpool beeinflußt haben könnte.
Wie dem auch sei: Powell hat in seinen „Miscellaneous Verdicts – Writings on Writers“ Proust ein eigenes Kapitel gewidmet, eine Ehre, die er sonst niemandem zu Teil werden lässt. Dort sind 17 Artikel über Proust zusammengefasst und im Sammelband seiner Memoiren, der 1983 unter dem Titel „To keep the Ball rolling“ erschienen ist, kommt Proust neun Mal vor, genau so oft wie William Shakespeare.
3. Powell und Shakespeare
Womit wir jetzt endlich bei William Shakespeare angekommen wären. Und schon wird eine erste Verbindung von Proust und Shakespeare deutlich, denn AP hat Proust später mutmaßlich im Original gelesen, aber sicher 1922 in englischer Übersetzung. Und der englische Text stammt von Charles Scott Montcrieff, der den viel gescholtenen Titel Remembrance of Things past gewählt hatte, was bis heute als Beweis einer inadäquaten Übersetzung angeführt wird, obwohl – und das wird vielleicht nicht hinreichend beachtet – diese Zeile natürlich von Shakespeare stammt, aus dem Sonnet 30, und mithin als Hommage an Proust und die Größe seines Werks gedacht war. Auch Shakespeare ist im ‚Dance…‘ allgegenwärtig. Anders als Proust nicht in personam, aber in zahlreichen Anspielungen und Bemerkungen. Er ist sozusagen in den Subplot eingewoben, wenn beispielsweise sein Schulfreund Charles Stringham Nick an den jungen Hamlet erinnert oder der Maler Edgar Deacon gleich doppelt mit Shakespeare – Figuren verglichen wird, mal mit Lear, mal mit Prospero. Ganz typisch für die Präsenz Shakespeares in Nicks Gedankenwelt ist, wenn diesen die Frisur von Dr. Emily Brightman auf dem Schriftstellerkongress in Venedig an die Dark Lady denken lässt, und zwar präzise an deren konkrete Beschreibung im Sonnet 130.
In seinen Journals, eine Art Tagebücher, fast genauso schön zu lesen wie der ‚Dance…‘ selbst, die in zwei Bänden die Jahre 1982 – 1992 umfassen, befasst sich Powell intensiv mit Shakespeare, aber er legt Wert auf Details, die im Großen und Ganzen für Normalsterbliche keine große Rolle spielen, sondern meist unbemerkt, jedenfalls aber unbeachtet bleiben. Einmal beklagt er eine der vielen ‚idiotic remarks‘ von Bernard Shaw, wonach die Totenmaske in der Holy Trinity Church in Stratford nicht die von Shakespeare sein könne, weil sie eher einem wohlhabendem Krämer gleiche. Als wenn poets immer poetisch aussehen müssten. Außerdem hätte Shakespeare durchaus eine wohlhabende Krämer – Seite gehabt. Zuvor ist zu erfahren, dass Shakespeare als Abendlektüre vorzuziehen ist, weil sie erholsam sei und einen beruhigt einschlafen lasse. Und dann macht er sich Gedanken, ob es auf der Insel im ‚Tempest‘ wohl einen Holzhandel gegeben habe, weil Prospero Caliban mit dem Einsammeln von Feuerholz beauftragt. Als er im Hamlet die Stelle liest, wo Hamlet dem Polonius ein Kalb schlachten lassen will, muss er an den fast Shakespeare – Zeitgenossen John Aubrey denken, der immer schon vermutet habe, Shakespeare sei ein Metzger – Sohn gewesen. Gut 10 Jahre später liest er den Hamlet erneut und macht sich Gedanken über den Status von Marcellus und dessen Kollegen Francisco und Barnardo, die gleich zu Beginn den Geist sehen. Wahrscheinlich seien sie junge Adlige gewesen, die als Wachsoldaten in Elsinore beschäftigt wurden, was bei einer möglichen Rückkehr nach Wittenberg auch in Teilzeit möglich gewesen sei und sicher zu einem guten Taschengeld geführt hätte. Ob die Herren tatsächlich mit Hamlet aus Wittenberg kamen und warum diese Dänen, wie ja auch Horatio, lateinisch klingende Namen hatten, darüber erfährt man bei Powell nichts. Aber bei Shakespeare ja auch nicht. Solche Bemerkungen durchziehen seine Notizen, immer wieder über derartige Trivia intensiv nachdenkend.
Gegen Ende seines schriftstellerischen Schaffens, im letzten Band seiner Memoiren „The strangers all are gone“, natürlich einem Shakespeare – Zitat entnommen, worüber wir gleich von Johanna Dombois mehr hören werden, finden wir eine Art kreatives Vermächtnis. Powell entwickelt eine Theorie über das Schreiben und setzt sich mit der Frage auseinander, was eigentlich „gute Literatur“ ausmacht und woran man sie erkennt. Er sinniert in diesem Zusammenhang ausführlich über Regeln, Konventionen und handwerkliche Techniken. Er beschreibt den Gegensatz zwischen dem genialischen Autor, der keine Regelhaftigkeit benötigt, dem es aber auch nicht schadet, wenn er sie dennoch befolgt, und dem minderbegabten Schriftsteller, der nur überlebt, wenn er sich an überlieferte Standards hält. Die Suche nach dem richtigen Maß nennt Powell „the perfection of literature“. Im Zusammenhang mit Shakespeare, dessen schöpferische Kraft die Beachtung irgendwelcher Regeln vollkommen überflüssig gemacht hätte, setzt Powell sich intensiv mit „the French“ auseinander, die Shakespeare häufig kritisiert hätten. Da müsse man aber die Franzosen mit einem der ihren in die Schranken weisen, und zwar mit „their greatest novelist and greatest rule-breaker“, also natürlich Proust, den er hier zum Zeugen in Sachen Shakespeare aufruft. Die Stelle, in der das eingeflochtene Proust-Zitat im französischen Original wiedergegeben wird, was es wahrscheinlich macht, dass Powell sein Vorbild auch im Original gelesen hat, lautet auf Deutsch etwa wie folgt:
Es scheint mir, dass die Entscheidung für oder gegen Perfektion auf der Basis persönlichen Könnens getroffen werden muss, wobei die Crux im individuellen Maß an kreativer Kraft liegt. Wenn man das Können von Balzac oder Dickens hat (Joyce, zum Beispiel, hatte es nicht), dann spielt ein gewisses Maß von schlechtem Zeug, das sich unter all die Erfindungen, Unternehmungen und Formulierungen mischt, keine große Rolle. Nur weiter so und auf Besseres hoffen, das sich bei den Giganten früher oder später auch einstellt. Bei einem Mangel an solcher kreativer Energie kann der Autor sich keine Risiken erlauben, er muss sich auf den allgemein anerkannten Standard einlassen. (…). Natürlich hatte Shakespeare die Kraft, sich in diesem Kontext so zu benehmen, wie es ihm gefiel. Er verliert selten den Kontakt zur Wirklichkeit der einen oder anderen Art und er lehnt es ab, sich durch irgendeine Theorie binden zu lassen. In diesem letzten Aspekt ist kritisiert worden, vor allem von den Franzosen, dass er gesetzte Regeln missachte. Also soll einer der ihren die Franzosen zurechtweisen, ihr größter Schreiber und ihr größter Regelbrecher:
Und dann zitiert er Proust en francais:
„Saint-Loup war nicht gescheit genug, um zu verstehen, dass intellektuelle Potenz nicht an eine bestimmte ästhetischen Regel gebunden ist …. . Nicht jede Sache kann nach dem Gewicht der ihr innewohnenden Intelligenz beurteilt werden, wenn dabei die Freuden der Vorstellungskraft nicht beachtet werden, die mir Empfindungen verschafft hat, die er für frivol halten würde.“
Und dann wieder Powell:
Shakespeare hätte in diesem Punkt mit Proust übereingestimmt, beide in der festen Überzeugung, dass „große“ Themen nicht notwendig sind für große Kunst; obwohl keiner von beiden die Schwierigkeiten von „gutem Schreiben“ unterschätzt hätte, was immer das bedeuten mag. Vielleicht die Stimulierung der Phantasie des Lesers auf eine neue Weise, dabei zugleich die eigene Vorstellungskraft des Autors beschränkend.“
Das ist der Grund, warum Powell seinen „Dance…“ nicht mit „großen Themen“ ausgestattet hat, obwohl die turbulenten Zeitläufe des 20. Jahrhunderts dazu ja viel Anlass geboten hätten. Aber Powell erzählt vom Kleinen zum Großen und deswegen folgt er nicht nur Proust bei der zuvor beschriebenen Charakterisierung seiner Figuren, sondern er erzählt den Dance… „over the dinner table“, wie er selbst gesagt hat. Also ein Roman über persönliches, erzählt im Kreis von Freunden, eine Sammlung von Anekdoten, Begegnungen und auch Gesellschaftstratsch. Aber gerade dadurch gewinnt der große historische Kontext, vor dessen Hintergrund das alles stattfindet, Gewicht. Powell entwickelt seine Erzählungen vom Alltäglichen, vom Trivialen zum Gewichtigen, zu den großen Sinnfragen. Autoren wie Geoff Dyer, der die Lektüre des Dance … in seinem Buch mit dem originellen Titel ‘The Last Days Of Roger Federer’ reine Zeitverschwendung nennt, a total waste of time, sehen den Punkt nicht. Außer natürlich, dass er das Monumentalwerk der englischen Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschrieben hat, hat Powell ganz bewusst eine Art literarischen Pointilismus erfunden, bei dem aus vielen kleinen Puzzleteilen das große Bild entsteht. In seinen Memoiren bezieht Powell sich auf den Autor Logan Pearsall Smith, der einen Aphorismen – Band mit dem vielsagenden Titel All Trivia herausgegeben hat, der auch solche petit point – Autoren wie Barbara Pym beeinflußt hat, die die große Welt aus dem Blickwinkel protestantischer Pfarrhäuser schildert und dabei großartige Perspektiven entwickelt.
Und dieser Ansatz führt dann zu einer Art erzählerischem Grundprinzip. Für Powell sind es nicht immer die großen Themen, die wichtig sind. Wie bei seinen Überlegungen über die kleinen Dinge des Lebens in Shakespeares Stücken kommt es Powell auf die Trivialitäten an, mit denen seine Figuren sich abmühen, er spricht in diesem Zusammenhang von ‚small jobs‘.
Und wie er den Hamlet liest und dabei über die Wachen nachdenkt, plaziert er neben die Tragik das Banale. Vom Geist erfahren wir von Königs- und Brudermord, vom Inzest, was ja als hochverräterische Anspielung auf Heinrich VIII. gelesen werden konnte, der ja auch die Witwe seines Bruders geheiratet hatte. Neben solche whips and scorns of time, neben to be or not to be und Hamlets Wahl zwischen Tyrannenmord oder Suizid when he himself might his quietus make with a bare bodkin, stellt Powell eben auch die Frage nach der Herkunft der Wachen und nach der Höhe ihres Lohns. Dieses Nebeneinander von großer Tragik und kleinem Alltag findet sich in Powell’s Dance…. häufig.Nur ein Beispiel von buchstäblich Hunderten: durch den Blitz über London wird das Café Madrid ausgebombt, während dort eine Geburtstagsfeier stattfindet. Dabei kommt ein Freund ums Leben. Aber wie durch ein Wunder überleben dessen Verlobte und Lady Molly, weil sie schon früher nach Hause gegangen sind. Aber als Nick zu ihnen fährt, um ihnen die traurige Nachricht zu überbringen, trifft er auch ihr Haus ausgebombt vor und beide sind doch noch dem Luftangriff zum Opfer gefallen. Die Schrecken des Krieges mit gleich drei toten Freunden werden noch am Ort der Zerstörung kontrastiert durch die Erinnerung einer Bekannten an ihre erste Begegnung mit der gerade umgekommenen Lady Molly. Diese habe sie nicht gemocht und hätte deswegen überall herumerzählt, sie habe einen grünen Potthut, a pork pie hat, und dazu eine Fliege getragen. Das habe aber gar nicht gestimmt, aber das sei auch ganz egal, wenn sie einen Potthut und eine Fliege habe tragen wollen, warum hätte sie das nicht tun sollen? Das ist powellesque: Die Tragödie des London Blitz und die Trivialität von passender oder unpassender Kleidung, beides eng mit einander verwoben. Traumatische Kriegserfahrung vermischt mit alltäglichem Klatsch.
Und wie ihn die Frage, ob Prospero mit dem Holzhandel zu tun hatte, beschäftigt, erweitert auch er im ‚Dance…‘ durch die Schilderung von vermeintlichen Nebensächlichkeiten den Blick auf die Hauptsache. Neben dem ganz Großen der banale Alltag. Noch ein kleines Beispiel: Mona, die Frau des inzwischen wohlhabenden Peter Templer, ist ursprünglich ein Model für Zahnpasta, man kann ihr Bild auf jedem Londoner Bus sehen. Sie verläßt ihren Mann für den Trotzkyisten J.G. Quiggin. Diesen verläßt sie aber auch, um mit Lord Warminster, Sie erinnern sich: George Orwell, vor Ort in China zu studieren, wie man Revolutionen macht. Nach nur drei Monaten ist schon wieder zurück. 10 Jahre später taucht sie plötzlich bei der Beerdigung von Warminster wieder auf und gibt Nick auf dessen Frage, warum sie so rasch aus China wieder abgereist wäre, eine naheliegende Begründung: schon in Hongkong habe es nichts Vernünftiges mehr zu trinken gegeben. Also auch hier: die Revolution, der lange Marsch, ein paar Millionen Opfer, aber tatsächlich interessiert nur die Frage, wie kommt Mona an die richtigen Drinks?
Und ganz am Ende, also buchstäblich auf der letzten Seite seiner Memoiren, beruft Powell sich zum Beweis für sein Prinzip auf eine Anekdote, die der Michelangolo – Freund und – Biograph Giorgio Vasari zum Besten gegeben habe: An einem Wintertag in Florenz mit starkem Schneefall hätte einer der Medicis nach Michelangolo gerufen, damit dieser im Hof des Medici – Palastes einen Schneemann bauen möge. Und es könne keinem Zweifel unterliegen, dass dann der schönste Schneemann aller Zeiten gebaut worden wäre.