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Warum ist Proust berühmt und Powell nicht?

Mit dieser provokanten Frage hat der Präsident der APG sich auf einem Meeting des Inner Wheel Klubs Köln – Römerturm am 08. Februar 2023 befasst und sie so zu beantworten versucht:

Warum ist Proust berühmt und Powell nicht? Man kann gleich zwei Fragen hinterher stellen, die schon Teil der Antwort sind: wer ist denn dieser Anthony Powell überhaupt? Und was hat er mit Marcel Proust zu tun? In einem Satz beantwortet ist Anthony Powell ein in England sehr renommierter Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, der durch einen 12bändigen Romanzyklus ‘A Dance to the Music of Time’ berühmt geworden ist, und wegen der Vergleichbarkeit mit der ‘Recherche…’ hat man ihn hierzulande den ‘englischen Proust’ genannt.  Ob man das so sagen kann, immerhin kommt in beiden Titeln das Wort „Zeit“ vor, darüber scheiden sich die Geister. Aber der in unserem Titel angesprochene Unterschied ist sicher: Proust ist hierzulande berühmt, Powell nicht. Er ist in Deutschland nur einer Handvoll von Fans bekannt, aber das könnte sich ja heute ändern. Beide sind sich, was ihre subtile Gesellschaftskritik angeht, durchaus ähnlich, auch wenn Sie bei dem ironischen und distanziert beobachtenden Powell kein Kind am Rande eines Nervenzusammenbruchs finden, nur weil die Mutter das Versprechen eines Gutenacht – Kusses nicht gehalten hat. Aber Powell hatte gegen Proust, der ihm ein großes Vorbild war, keine Chance. Man könnte sagen: Proust hatte einen zu großen Vorsprung. Als dieser vor jetzt etwas mehr als 100 Jahren starb, war Tony gerade 17 und auf dem Weg von Eton nach Oxford. Aber das würde nicht stimmen. Denn als Proust in das kulturelle Bewusstsein eines bildungshungrigen deutschen Nachkriegs – Publikums trat, in den 50ern mit der allseits anerkannten Übersetzung von Eva Rechel-Mertens, war Powell nicht fern. Die erste deutsche Übersetzung eines Bandes des „Dance…“ stammt nämlich schon aus dem Jahre 1961, bemerkenswert allein deswegen, weil die Übersetzung von einer sehr prominenten Kölnerin stammt, nämlich der späteren Bundesministerin Dr. Katharina Focke. Aber diese Publikation des Klett Cotta-Verlages ging vollkommen am Publikum vorbei. Es handelt sich um den vierten Band „At Lady Molly’s“, zu Deutsch „Lady Mollys Menagerie“. Warum man ausgerechnet mit der Übersetzung des vierten Bandes angefangen hat, wusste Frau Dr. Focke auch nicht. Als ich sie danach fragte, verstand sie erst die Frage nicht – ‚wie, vierter Band?‘ – und dann beschlich Sie der Verdacht, dass ich das Problem sein könnte – ‚wie, 12 Bände?‘ Es steht zu vermuten, dass das Erscheinen des 4. Bandes 1957 Anlass für den Klett Cotta Verlag war, damit einmal den deutschen Markt zu testen. Offenbar hat man gar nicht gemerkt, dass bereits drei Bände vorausgegangen waren. Und noch acht kommen würden.  Ein ganz schlechter Start. Es wurde nicht besser. “ Mitte der 60er Jahre sind die ersten drei Bände des „Dance…“ unter dem Titel „Ein Tanz zur Zeitmusik in der Übersetzung von Bernhard Schlienzmann bei der Deutschen Verlags-Anstalt erschienen. Schon der Titel war schräg, wie die gesamte Übersetzung. Nach drei Bänden war Schluss. In den 80er Jahren hat dann der Ehrenwirth-Verlag den nächsten Versuch unternommen. Aber wiederum sind nur die ersten drei Bände erschienen, obwohl auch diese Übersetzungen bereits von Heinz Feldmann stammen, der jetzt im Elfenbein Verlag – endlich – alle 12 Bände in Deutsch vorgelegt hat.

Ehrenwirth hat in den 80ern einfach keine Leser gefunden. Hier kann ich die Anekdote einflechten, wie ich denn eigentlich zu Powell gekommen bin. Ich hatte die ersten drei Ehrenwirth – Bände gelesen und war auf den Geschmack gekommen. Als mein Buchhändler nur mit den Schultern zuckte, als ich hartnäckig nach Band vier fragte, schrieb ich dem Ehrenwirth Verlag und forderte Band 4. Da kam ein riesiges Paket an, der Ehrenwirth Verlag schrieb mir: „Jetzt, wo wir endlich den einen Leser ausfindig gemacht haben, schicken wir Ihnen die Originale des Übersetzers. Bitte lesen Sie auf Englisch weiter.“

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Also, warum Proust berühmt ist und Powell nicht, kann am Zeitpunkt des Zugangs zur deutschen Leserschaft nicht liegen. Auch nicht an der deutschen Kritik, die den ‚Dance…‘ mit Lob sozusagen überschüttet hat. Andreas Isenschmid hat in der „ZEIT“ gemeint, dies wäre die „schönste lange Romanreise der Weltliteratur“, das Ganze sei „very british – besser als Balzac“ (na ja, Balzac war vielleicht nicht so wahnsinnig britisch, aber der Vergleich soll wohl eher auf eine „Comédie humaine“ anspielen). Tobias Döhring in der „FAZ“ spricht von einem „mitreißenden“ Roman, einem „Gipfeltext des 20. Jahrhunderts“ und Andreas Platthaus erkennt im ‚Dance…‘ „das Großartigste, was Literatur zu leisten vermag“. Aber wie erklärt sich dann eine derart unterschiedliche Wahrnehmung beider Autoren? Ich wage die Behauptung, dass Proust in fast allen Bücherschränken des hiesigen Bildungsbürgertums zu finden ist, aber nur sehr wenige ihn auch ganz gelesen haben. Bei Powell ist das andersherum. Nun muss niemand ein schlechtes Gewissen haben, wenn man etwas nicht zu Ende liest; Orhan Pamuk hat erst kürzlich darauf hingewiesen, dass das eher am Autor liegen wird als am Leser. Aber bei Powell liest man zu Ende. Wenn man erst mal angefangen hat. Ziemlich sicher. Hoffentlich.

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Um was bzw. wen geht es? AP ist 2000 im Alter von 95 Jahren verstorben, er hat Proust also beinahe um ein Jahrhundert überlebt. Einzelkind in einer Soldatenfamilie. Mutter mit Hang zum Okkulten, der 15 Jahre jüngere Vater mit Hang zum Jähzorn. Schulzeit in Eton. Studium in Oxford. Vor der Karriere als Schriftsteller Lektor bei Duckworth & Co und Drehbuchautor in Hollywood. Jahrzehntelang im Nebenberuf Kritiker für das TLS und den Punch, dessen Herausgeber er auch war. Erste Vorbilder Mitte der 20er waren weder James Joyce noch Virginia Woolf, deren Ulysses bzw. Jacob’s Room im Todesjahr von Proust erschienen, sondern dessen zeitgleich auf Englisch erscheinender erster Band der Recherche. Und dann TS Elliot und …. erstaunlicherweise Ernest Hemingway, dessen Bildersprache AP ebenso wie dessen Lakonie faszinierte. Nach Proust und Elliot würde in der Literatur nichts mehr so sein wie zuvor, da war man sich in Powells Kreis einig. AP hat Proust in seinen Memorien ‚To keep the Ball rolling‘ achtmal erwähnt, genau so oft wie den über allem schwebenden Shakespeare. Weitere Vorbilder waren die großen Russen, Dostojewski und vor allem Gogol, aber auch John Galsworthy, dem er ein Denkmal gesetzt hat mit dem fiktiven Schriftsteller St. John Clarke, was Sinjin ausgesprochen wird, was an das erste Pseudonym von Galsworthy John Sinjohn erinnern soll. Das ist typisch Powell: subtile Denkmäler für die, die er verehrt, kleine Spitzen für die, die er nicht so gut leiden kann. Während des Blitz über London suchen ein General und der Ich – Erzähler Nick Jenkins Schutz unter einem Tisch. Der General hat ein Buch von Anthony Trollope dabei und fragt Nick, was er davon halte. ‚Not much‘ ist die Antwort, während Nick still ein Exemplar der Recherche an sein Herz drückt. Und als die Rede auf Virginia Woolf’s Orlando kommt und Nick um seine Meinung gefragt wird, sagt er ausweichend: „Rather hard to say in a word“. Aber als er sich festlegen soll ‚Did you like it, yes or no?“  antwortet er „No“ und als der andere behauptet, „that woman can write“ meint Nick: „Yes. I can see that. But I still didn’t like it“.

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AP, der schon vor dem Krieg ein paar Romane veröffentlicht hatte, trug sich schon länger mit dem Gedanken, einen generationenübergreifenden Gesellschaftsroman zu schreiben und er hat dieses dann zwischen Anfang der 50er Jahre und Mitte der 70er Jahre verwirklicht. Der Titel „A dance to the music of time“ stammt von einem gleichnamigen Gemälde von Nicholas Poussin, etwa aus dem Jahr 1640, das AP in der Wallace Collection gesehen hat (wo es heute noch hängt und besichtigt werden kann).  Das Gemälde von Poussin, das vier Gestalten in einem Tanzreigen zeigt, die sich zur Musik des im rechten Vordergrund sitzenden Flöte spielenden Gottes Chronos bewegen, schien Powell das rechte Sinnbild für sein Romanvorhaben zu sein.

Ein 12bändiges Werk von über 3.000 Seiten, das mit den Schüssen von Sarajevo beginnt und Anfang der 70er Jahre in einer etwas obskuren Universität in den Midlands endet. Über 400 Personen tauchen auf, treten wieder ab, und erscheinen dann, manchmal erst nach Jahrzehnten und in ganz anderen Rollen, wieder.

Auch hier Eton und Oxford, dann die City of London, wir bewegen uns unter Parlamentariern und im House of Lords. Andererseits begegnet uns die intellektuelle Bohème von Fitzrovia, das war der von AP bevorzugte Gegenentwurf zu Bloomsbury, deren Mitglieder AP für ‚pretenders‘ hielt. Wir bewegen uns in Musiker-, Maler- und Schriftstellerkreisen, ein Kritiker spricht denn auch davon, Powell habe ein „Doppelleben“ geführt, ganz wie sein alter ego Nicholas Jenkins. Armee und 2. Weltkrieg spielen eine erhebliche Rolle. Nach dem Krieg kehrt Nicholas an die Universität in Oxford zurück, um ein Buch über „The Anatomy of Melancholy“ von dem Shakespeare – Zeitgenossen Robert Burton zu schreiben. Von dort geht es zu einem Schriftstellerkongress in Venedig, an eine etwas obskuren Universität in den Midlands und schließlich auch noch in die Hippie – Kommune des Sektenführers Scipio Murtlock.

So ist der „Dance…“ – nach den Worten von AP „told over the dinner table“ – ein Kaleidoskop der unterschiedlichsten Figuren und der Lebensläufe seiner Protagonisten. Nick Jenkins spielt eigentlich nur eine beobachtende und erzählende Rolle im Hintergrund, Hauptakteur ist der allseits extrem unbeliebte Kenneth Widmerpool. Unzählige weitere Figuren kommen hinzu, die Mitschüler Peter Templer und Charles Stringham, oder Sunny Farebrother und Sir Magnus Donners oder… oder …. Nicht zu viele Namen, meine Frau fürchtet sonst einen Loriot – Effekt wie in der Serienansage zu North Cothelstone Hall in Nether Addlethorpe.

Aber ein paar der wunderbaren Frauengestalten dürfen nicht fehlen wie Baby Wentworth oder Bijou Ardglass, die beide mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln um die Position der führenden Gesellschaftsdame wetteifern. Von Baby Wentworth erfährt man, dass sie mit keinem ihren verflossenen, zahlreichen Liebhaber je wieder auch nur ein einziges Wort gewechselt hat. Dieses Schicksal bleibt dem beklagenswerten Chips Lovell erspart, der Nicholas in Bezug auf Baby Wentworth fragt: „Have you slept with her? Most of one’s friends have!“

Und da ist Mona, ursprünglich ein Model für Zahnpasta, deren Bild einen von jedem Londoner Bus anlacht. Aus ihrer Ehe mit dem gut situierten Frauenhelden Peter Templer flieht sie in die Arme des Trotzkyisten J.G. Quiggin, Oxford – Absolvent und später Herausgeber der Zeitschrift „Fission“, nur um von dort wiederum mit dem als Tramp camouflierenden Lord Warminster, dem Schwager des Chronisten, nach China zu entfleuchen. Diese Reise lässt sie dann völlig von der Bildfläche verschwinden und erst Jahre später taucht sie plötzlich wieder auf, nur um Nick zu erzählen, dass sie Warminster in China verlassen musste, weil es dort nichts Vernünftiges zu trinken gegeben habe.

Höhepunkt aller Frauenfiguren ist Pamela Widmerpool, die ein Kritiker ‚the biggest bitch in english literature‘ genannt hat. Ebenso extrem gutaussehend wie extrem exzentrisch, taucht sie 1942 aus dem Nichts auf als freiwillige Fahrerin im Kriegsministerium. Wir erfahren, dass sie eine Schwester von Charles Stringham ist, Mitschüler Nick’s in Eton, gescheiterter Oxfordstudent, in der „City“ zum schweren Alkoholiker mutiert. Nach dem Krieg heiratet sie dann Kenneth Widmerpool, nur um allen zu zeigen, dass sie zu allem fähig ist (eher rhetorische Frage ihrer Mutter Flavia: „Wie konnte sie nur? Da findet sie den schrecklichsten Mann auf Gottes Erden und heiratet ihn?“), verlässt ihren Mann für den Avantgarde-Schriftsteller X. Trapnel, verlässt auch diesen wieder, wobei sie, sozusagen als Abschiedsgeschenk das einzige Manuskript seines neuen Romans ins Wasser wirft, weil sie es als unter seinen Möglichkeiten empfindet. Modell für Pamela Widmerpool ist Barbara Skelton, die während ihrer Ehe mit dem Schriftsteller Cyril Connolly ein Verhältnis mit dem Verleger George Weidenfeld begann und ihn heiratete, diesen alsbald aber wieder verließ, weil sie eine Affäre mit ….. Cyril Connolly anfing. So war das damals im Vereinten Königreich und so ist dann eben auch der Roman.

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AP hat höchstes Lob bis intensive Ablehnung erfahren, ein Kritiker hat ihm gar bescheinigt, nur Bettlektüre in Form einer „gaga saga“ geschrieben zu haben und ein Kritiker hat gemeint ‚it is a pity he ever dipped into Proust‘. AP hat das nicht ernst genommen, er habe gar nicht die Absicht gehabt, Proust zu imitieren und er hielt es für unangebracht, ihn mit einem der größten Schriftsteller überhaupt zu vergleichen.

Mit George Orwell, der politisch auf der anderen Seite von AP zu verorten ist, der eine im Spanischen Bürgerkrieg, der andere Margret Thatcher – Fan, war er zeitlebens eng befreundet und hat ihm das rote Samtjackett besorgt, mit dem Orwell auf dem Totenbett noch seine Freundin Sonia Brownell geheiratet hat. Und Orwell fand nur gute Worte: “Tony is the only Tory I like“. V.S. Naipaul hat ihn mit Jane Austen gleichgesetzt, P.G. Wodehouse, Nancy Mitford, Kingsley Amis, Cyrill Connolly, sie alle erkannten die Qualität von AP und anerkannten sie auch. Lassen Sie mich mit einem letzten Proust – Vergleich schließen, der es vielleicht auf den Punkt bringt: Sein Freund Evelyn Waugh hat gemeint, der Dance… sei „wie trockener Champagner, kühl, humorvoll; realistischer als Proust und …. viel vergnüglicher“.